Eine Geschichte über die Freundschaft

 

Eines Tages, ich war gerade 12 Jahre alt, sah ich ein Mädchen aus meiner Klasse nach Hause gehen. Sie hieß Samira und hatte dunkle Haut. Es sah so aus, als würde sie all ihre Bücher mit nach Hause nehmen. Ich wunderte mich im Stillen: "Wieso trägt sie die ganzen Bücher mit sich, und das ausgerechnet zum Wochenende? Hat sie nichts Besseres zu tun?" Mein Wochenende hatte ich schon verplant - Radfahren mit meinen Eltern und ein Shopping-Nachmittag mit meinen Freundinnen standen auf dem Programm. Also zuckte ich nur mit den Schultern und ging weiter.

 

Im Vorbeigehen sah ich eine Gruppe Kinder in ihre Richtung laufen. Sie rempelten sie an, schlugen ihr die Bücher aus den Händen und schubsten sie. Sie fiel hin und landete im Dreck. Ihre Brille flog im hohen Bogen durch die Luft und ich sah, wie sie neben ihr im Gras landete. Samira schaute auf und ich sah unendliche Traurigkeit in ihren großen tiefbraunen Augen. Ich hatte ein beklemmendes Gefühl im Herzen, als ich zu zu ihr hinüber ging. Sie kroch auf dem Boden umher und suchte ihre Brille. Ich sah die Tränen in ihren Augen. Als ich ihr die Brille gab, sagte ich: "Mach’ Dir nichts draus, das sind doch nur Dummköpfe!" Sie schaute zu mir auf und sagte "Danke!" Dabei lächelte sie mich noch etwas scheu an, aber ich konnte sehen, wie dankbar sie für diese Geste war.

 

Ich half ihr, ihre Bücher aufzuheben und fragte Samira, wo sie wohnte. Dabei erfuhr ich, dass das ganz in meiner Nähe war und ich wollte wissen, warum ich sie vorher nie hier gesehen hätte. Sie erzählte mir, dass sie sehr oft wegen ihres anderen Aussehens gehänselt würde und sich deshalb nicht traute, rauszugehen.

 

Wir unterhielten uns den ganzen Nachhauseweg lang, dabei trug ich ihre Bücher. Sie war wirklich ein ganz liebes Mädchen. Ich fragte sie spontan, ob sie nicht Lust hätte, mit mir und meinen Freundinnen am Samstag auszugehen. Sie sagte zu und das Eis war gebrochen. Schließlich verbrachten wir das ganze Wochenende zusammen und je mehr ich Samira kennenlernte, desto mehr mochte ich sie. Auch meine Freundinnen waren von ihr angetan.

 

Der Montagmorgen begann und Samira erschien wieder mit ihrem riesigen Bücherstapel in der Schule. Ich neckte sie: "Eines Tages wirst Du als Bücherwurm enden." Sie lachte und gab mir einen Teil der Bücher. Während der nächsten Jahre wurden Samira und ich richtig gute Freundinnen. Wir dachten über ein Studium nach. Samira entschied sich für die USA. Ich wollte hier bleiben. Wir würden immer Freundinnen bleiben, da war ich mir ganz sicher. Auch die große Entfernung würde unserer Freundschaft nicht schaden. Ihr Traum war es, Ärztin zu werden und ich hatte vor, eine Journalisten-Karriere einzuschlagen.

 

Jahre später war Samira unsere Klassensprecherin und musste eine Abschiedsrede für den Schulabschluss vorbereiten. Ich war sehr froh, dass ich nicht diejenige war, die sprechen musste, hatte ich doch Hemmungen, vor großem Publikum zu reden. Nun war der Abschlusstag da und ich sah Samira. Sie sah großartig aus mit ihren langen pechschwarzen Locken, ihren großen strahlenden Augen und der schlanken Figur, die sich unter ihrem blauen Kleid abzeichnete. Sie war eine von denen, die während der Schulzeit ihren eigenen Stil entwickelt und zu sich selbst gefunden hatten. Sie war der Schwarm aller Jungen. Manchmal war ich richtig neidisch auf sie. Heute war einer dieser Tage. Ich konnte sehen, dass sie wegen ihrer bevorstehenden Rede sehr nervös war. Ich gab ihr einen Klaps auf dem Rücken und sagte: "Süße, Du wirst das schon machen, denn Du bist einfach großartig!" Sie sah mich an, lächelte und bedankte sich. Bevor sie ihre Rede begann, räusperte sie sich kurz, sah in meine Richtung an und legte los.

 

"Der Abschluss ist eine Zeit, um innezuhalten und denen zu danken, die Dir geholfen haben, diese harte Zeit zu überstehen. Deinen Eltern, Deinen Geschwistern, Deinen Lehrern... aber am meisten Deinen Freunden. Ich sage Euch, das beste Geschenk, das Ihr jemandem geben könnt, ist Eure Freundschaft. Ich will Euch eine Geschichte erzählen." Ungläubig und fassungslos schaute ich meine Freundin an, als sie von dem Tag erzählte, an dem wir uns das erste Mal außerhalb der Schul trafen. Sie hatte geplant, sich an diesem Wochenende aus Traurigkeit das Leben zu nehmen. Sie erzählte weiter, dass sie ihren Schrank in der Schule bereits leergeräumt hatte, sodass ihre Mutter es später nicht tun müsste und trug ihr Zeug nach Hause. Sie schaute mich an und lächelte. "Gott sei Dank wurde ich gerettet. Meine Freundin hat mich von diesem unsäglichen Plan bewahrt." Ich konnte spüren, wie das Publikum den Atem anhielt, als dieses bildhübsche und allseits beliebte Mädchen uns von dem dunkelsten Moment ihres Lebens erzählte. Ich bemerkte, wie ihre Mutter und ihr Vater lächelnd zu mir herübersahen, mit dem gleichen dankbaren Lächeln. Eine unbeschreibliche Wärme kroch in mein Herz. Niemals zuvor hatte ich eine solch tiefe Verbundenheit zu einem Menschen gefühlt.

 

Man bedenke: Durch eine kleine Geste oder durch ein Wort kannst Du das Leben eines Menschen ändern - zum Guten oder zum Bösen. Unterschätze niemals die Macht Deines Handelns und folge immer Deinem Herzen. Die Schöpfung setzt uns alle ins Leben des anderen, um uns gegenseitig zu beeinflussen, auf jegliche Art und Weise. Gehe immer sorg- und achtsam mit dieser Verantwortung um und siehe immer das Gute im anderen. Und sei ihm so ein Spiegel für das Gute.