Geschlossene Gesellschaften

 

Sie sei gerade aus ihrem Lieblingsgeschäft zurückgekommen, mehrere Flaschen Weißwein mit edlem Etikett habe sie erbeutet. „La Ferme“ heiße der Tropfen. So beginnt eines unserer Telefongespräche. Gut und dazu preiswert, schallt es in mein Ohr und ich sehe ihr Herz jubeln. Ich grinse in den Hörer und weiß, was sie mir sagen wird. „So komme ich durchs Leben, keiner hat es mit beigebracht. Die neue Gesundheitszeitschrift habe ich auch geholt, mit inne liegendem Fernsehprogramm und gratis.“ Lachen geht durch die Telefonleitung. Sie ist schon eine spitzfindige Freundin.

 

Das Dasein im Draußen und unsere Lebensweise stehen momentan still, fast weltweit. Das Innenleben in unseren Räumen und Seelen kann sich entfalten. Ein Telefongespräch kommt wieder häufiger vor. Die Schneckenpost kriecht los. Herrlich, finde ich das, Füller in die Hand nehmen und korrespondieren. Ich fühle mich wie vor dem digitalen Zeitalter. Erinnerungen aus der nicht digitalen Lebensphase können leichter aufsteigen, meine ich. Wie Ballons sehe ich Ausschnitte meines Lebens vor mir.

 

Meine Freundin fährt fort: “Ich habe heute eine Rätselaufgabe per Video erhalten.“ „Von wem?“ „Von den Schwiegereltern meines Sohnes. Aus Südfrankreich. Sie leben dort in einem Bauernhaus.“

 

Einige Erinnerungs-Ballons steigen auf. Mein Südfrankreich war Montpellier und das Mittelmeer. Die Sonne. Zwei Zitronenbäumchen im Vorgarten. Der Mann meiner Vermieterin sah aus wie Jean Gabin. Er war Rentner und stand oft bewegungslos im Rahmen seiner Gartentür. Rauchend und aschfahle Gesichtsfarbe. Keine Mimik. Sie fuhr täglich mit ihrem Rennrad fort. Ich glaube, er ging ihr auf die Nerven. Ich habe ihn ein Jahr lang nur gegrüßt.

 

Ich wäre fast bei einem Gasaustritt ums Leben gekommen. Ich konnte in den Garten laufen, bevor ich hinfiel. Ich hatte sie irgendwie gerochen, die unsichtbare Gefahr. Glück gehabt. Meine Vermieterin war untröstlich und hat mich sofort zum Arzt gebracht, ein Spaziergang an der frischen Luft und alles war wieder okay. Der Gasherd wurde ausgetauscht. Ein Transit fuhr zu nah an mir vorbei und der Außenspiegel schlug mir an den Kopf. Ich wankte, konnte mich jedoch auf den Beinen halten. Der Knall kam mir immens vor. Glück gehabt. Jemand fragte nach, ob alles in Ordnung wäre. Ich fühlte mich alleine. Ich hatte ein Studienjahr vor mir und es wurde ein großartiges Jahr.

 

Jetzt ist Frankreich geschlossen, auf unbestimmte Zeit. Es herrscht eine Gefahr, unsichtbar auf den ersten Blick. Sterbenskranke in überfüllten Hospitälern und Tote, wenn man genau hinguckt.

 „Hallo, bist du noch da?“

„Ja, ja, bin gerade abgedriftet, es tut mir leid.“ Bauernhaus, idyllisch, drifte ich weiter.

„Heute habe ich auch…,“ höre ich am anderen Ende…0

Wird es Idylle in der Zukunft nicht mehr geben? Das Wetter ist draußen trotzdem schön. Vögel bauen Nester. An der Stelle kein Problem.

Kurzer Frühling, heißer Sommer, Waldbrände und Wassermangel oder Umschwenken der Weltgemeinschaft? Was wird aus der Erdkugel? Wie wird die Menschheit agieren? Puh, jetzt reicht es mir.

„Hallo, bist du noch da?“, frage ich in den Hörer. Sie hat aufgelegt, ich war zu lange nicht mehr da. Nicht schlimm, denke ich. Einen Gute-Nacht-Gruß per whattsapp und Schluss für diesen Tag in Woche drei der Kontaktbeschränkungen.

 

Meine Freundin hat übrigens des Rätsels Lösung per Video zurückgeschickt:

 

auf eine Pappe geschrieben, eine Weinflasche „la Ferme“ daneben gestellt und ihr Selfie-Gesicht ins Bild geschoben. Sie hat das Weinglas erhoben und nach Südfrankreich in das Bauernhaus geprostet. Sie hat den richtigen Wein ausgesucht. Spitzfindige Freundin, sagte ich schon.

 

Geschlossene Gesellschaften, die Datenautobahn bleibt geöffnet.


Schnee alleine reicht nicht

 

Die Sonne kroch über den Horizont als sie vor ihre Datscha trat. Sie sah Schnee, nichts als Schnee. Die Datscha stand in einer Senke und bloß ein Fensterstück war zu sehen. Die Haustür musste sie fast jeden Tag freischaufeln.

 

Sie blinzelte in die Sonne und hielt ihre Arme vor dem Körper verschränkt. Alt und langsam war sie geworden, aber nicht übellaunig.

 

Seit Wochen schöpfte sie jeden Morgen mit ihrem Stilkochtopf etwas Schnee, um sich mit dem Wasser einen Tee zu kochen.

 

Nur heute war es anders. Ihr Hund tollte um sie herum, die Katze huschte

hinter den Stall. Die Ziege und ein Schwein warteten auf Futter und Auslauf.

Sie aber fing an eine Schneekugel zu rollen – der Schnee haftete gut.

 

Sie drehte die Kugel hin und her, weiter und weiter, lief um sie herum und rollte sie, bis sie groß genug war und sie selber kaum noch Kraft hatte.

 

Danach formte sie eine zweite und drehte und rollte auch diese vorwärts und rückwärts, hin und her und zum Schluss im Kreis. Ihre Hände brannten und waren gerötet.

 

Da fielen ihr die Tiere ein und sie eilte zum Stall, um sie zu versorgen.

 

In der Ferne sah sie schon Viktor, ihren Nachbarn. Wie jede Woche kam er vorbei, um ihr Käse, Eier und Gemüse zu bringen. Als er ihren Hof erreichte, stand sie, ihre Hände in der Taille abgestützt, zwischen den Schneekugeln und sah ihn erwartungsvoll an.

 

Er lachte sie aus: „Was machst du da, Irina? Gibt’s heute keinen Tee für mich?“

„Viktor, sei still, hilf mir lieber, ich will einen Schneemann bauen! Los, pack an!“

 

Kopfschüttelnd hievte er die kleinere Kugel auf die Große. Er staunte über die Energie seiner Nachbarin und insgeheim bewunderte er sie.

 

„Irina, wo bleibt mein Tee? Ich habe Durst!“, rief er und steckte dem Schneemann eine Mohrrübe ins Gesicht. Schnell holte sie zwei Gläser und eine

 

Flasche Wodka.

„Nasdarowje, Viktorchen, Tee gibt’s gleich.“

Er prostete ihr zurück: „Nasdarowje, Mütterchen!“. Sie verstanden sich.

Danach verschwand sie ins Haus, bereitete Tee und rief ihn herein.

 

Von nun an kam Viktor jeden Tag vorbei. Gemüse und Lebensmittel teilte er jetzt auf sieben Tage auf. Erst am Ende der Woche hatte die alte Frau das, was sie brauchte. Sie nahm es in Kauf und freute sich. Er guckte nach dem Schneemann und besserte ihn aus, wenn er zu bröckeln begann. Danach ging es hinein auf ein Glas Wodka.

 

Die Alte sagte jetzt immer: „Ich habe eine Suppe auf dem Herd, isst du mit?“ Das gefiel ihm. Mit aufgestützten Unterarmen schlürfte er Löffel für Löffel die Suppe.

 

An einem Tag sah er auf dem Tisch eine Schürze liegen. „Wozu die, Irina?“, fragte er.

 

Sie nahm die Schürze und ging hinaus. Er lief ihr nach. Kurzerhand band sie dem Schneemann die Schürze um und zeigte auf ihre Schneefrau.

 

Viktor kicherte und formte drei kleine Schneebälle, die er durch die frostige Luft jonglierte: die Bälle flogen hoch und tief, unentwegt von unten nach oben und wieder von unten nach oben. Er hüpfte dabei von einem Bein aufs andere und drehte sich beschwingt um seine eigene Achse. Sie hob herunter

gefallene Bälle auf, drückte sie fest zusammen und warf sie ihm zu. Immer wieder streckte sie ihre Arme in die Luft und drehte sich vor Freude im Kreis.

 

Irina hoffte, dass die Kälte noch lange anhalten würde. Die Schneefrau werde sicher nicht über das Frühjahr kommen. Da musste sie sich etwas einfallen lassen.

 

Viktor drehte sich im Schnee, stolperte, stand auf – an ihm vorbei flogen Irina, die Schneefrau und die Datscha – schwindelerregend. Er taumelte und sprach zu sich: „Im Frühjahr gehe ich angeln und bringe ihr den Fisch vorbei, einen

jeden Tag.“


Nachteulen

 

Ich habe sie nie richtig kennengelernt und bis zum letzten gemeinsamen Arbeitstag haben wir uns gesiezt.

 

Wir hörten beide gerne Radio, sodass es sich einmal ergab, zusammen eine Live-Sendung zu besuchen. Kleiner Tisch, Käsewürfel, Getränk. Wir saßen in einer anderen Welt, Rundfunkstudio statt Büroraum. Einer weiteren Person, einem Mann, wurde ein Platz an unserem Tisch zugewiesen.

 

Der Moderator startete die Sendung: grünes Licht – Musik – Anspielen von Songs – Erraten von Titeln – Höreranrufe – Applaus.

 

Unser Mann aß den ersten Käsewürfel. Dann verschwand ein Würfel nach dem anderen. Wir hatten Not, einige für uns zu ergattern. Rotes Licht – Verkehrsdurchsage – grünes Licht – nächster Hörer. Unser Tischnachbar aß und aß, und wir konnten nur äußerst knapp einen totalen Lachanfall unterdrücken. Bloß jetzt nicht angucken.

 

Rotes Licht blinkte: Verabschiedung der Hörer am Radiogerät und im Studio – Sendung endete – Halbdunkel. Danach wurde das Studio wieder hell. Der Moderator plauderte noch etwas mit seinen Gästen. Wir beide dagegen hielten unseren Mann im Visier. Hier waren wir uns ohne Worte einig, schließlich hatten wir einen beruflich antrainierten Spürsinn. Wohin würde er gehen, der hemmungslose Esser? 

 

Kurzerhand sahen wir von einem geplanten Nachtimbiss ab und liefen hinter ihm her. Er hatte es eilig, sodass wir das Tempo erhöhen mussten. Wir waren nicht die Langbeinigsten. Als er plötzlich abbog, verloren wir ihn beinah aus den Augen. Kleiner Dauerlauf, schon hatten wir ihn wieder im Blick.

 

Am Ende der Straße – wir hielten jetzt mehr Abstand – leuchtete bereits das Schaufenster eines Ladens. Dorthin musste der Mann geeilt sein. Wir marschierten auf das Geschäft zu und schauten auf die Auslagen eines Feinkostladens. Käsewürfel und Feinkost – meine Kollegin guckte mich an, ich sie, und wir prusteten los. Inzwischen tauchten drei, vier Menschen auf, die in den Laden gehen wollten. Gut gelaunt spornten sie uns an mitzukommen. Unsere Blicke kreuzten sich und wir folgten dem Grüppchen.

 

Ein Arm streckte uns ein Glas Wein entgegen, eine Hand zeigte auf Käsehäppchen. Arm und Hand gehörten unserem Mann, der von nichts wusste.

 

Wir genossen das feine Essen, dazu den Wein und ließen nichts übrig. Schließlich hatten wir Hunger und enormen Spaß. Kurze Unterhaltungen nach rechts und links – nächtliches Treffen von Freunden – sympathische Leute. Glückliche Gesichter zweier Kolleginnen.

 

Wir verabschiedeten uns nach einer knappen Stunde und fuhren mit der Bahn wenige Haltestellen, bevor jede sich auf ihren Heimweg machte. Nie mehr haben wir außerhalb des Büros etwas gemeinsam unternommen.

 

Einmal, Jahre später, nachdem unser langer Berufsweg zu Ende gegangen war, trafen wir uns zufällig in einer Eisdiele. Sie bestellte ein Spaghetti-Eis und ich einen Amarena-Becher. „Bitte jeweils eine große Portion!“, rief sie dem Kellner hinterher.