Corona 2.0

Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch blickte Horst auf seine Armbanduhr. Es war kurz vor vier, was ihn innerlich zusammenschrecken ließ. Die Warteschlange vor dem Supermarkt war zu lang gewesen. Er hätte sich zu so später Stunde nicht anstellen dürfen. Doch er hatte sich an seinen leeren Kühlschrank zuhause erinnert und es dennoch gewagt. Jetzt hieß es, möglichst flink zurück in die Wohnung zu kommen, bevor die Sechzehn-Uhr-Sperrstunde begann.


Ein mit Nachdruck ausgesprochenes »Hallo? Sie da?«, ließ ihn erneut zusammenzucken. Ein Polizist mit langem roten Bart und seine Kollegin mit feuerrotem Haar traten auf ihn zu. Beide trugen sie die durchsichtigen Atemmasken mit den eingebauten Lautsprechern, die nur Staatsdiener tragen durften.
»Coronaler Gruß«, kam es fast gleichzeitig aus ihrem Mund. Die Staatsdiener formten dabei mit der Hand ein ´C´ über ihrem Kopf, was Horst erwiderte.


»Kann ich bitte ihren Ausweis sehen?«, forderte der Beamte ihn auf. Horst kramte sein Pass hervor und hielt ihn so vor sich, dass die Beamten das Lichtbild mit vorgeschriebenem Mindestabstand betrachten konnten. Das war wichtig. Hätte Horst den Abstand nicht eingehalten, wäre er ohnehin unversehens in den Bau gewandert.
»Sie wissen aber schon, dass sie nach sechzehn Uhr nicht ohne Vollschutz auf die Straße dürfen?«, erklärte die Beamtin, die ihn wegen ihrer blauen Augen und ihrer netten Stimme an seine Cousine Paula erinnerte.
»Tut mir leid, aber wir haben nur einen Vollschutz. Und den braucht tagsüber meine Frau«, rechtfertigte sich Horst und dachte an die neongelbe Burka mit dem Sehschlitz. Das zu erklären, war im Grunde unnötig. Den Vollschutz, die Burka, bekam man nur auf schriftlichen Antrag. Mit ewig langen Bearbeitungszeiten. Wegen Materialknappheit, wie es hieß. So musste jeder Haushalt mit einer Burka auskommen, was bedeutete, dass nur einer der Familie abends auf die Straße konnte.


»Leider sehe ich kein Abzeichen an ihnen.« Die Polizistin beugte sich leicht vorn über und betrachtete intensiv Horsts Jacke. Das Abzeichen, das sie an seinem Revers suchte, waren zwei gegeneinandergekippte goldgelbe Dreiecke. Es zeichnete systemrelevante Personen aus, wie Ärzte oder Beamte, die auch ohne Vollschutz das Freie betreten durften.


»Hm, das ist schlecht. Nichtbeachtung der Corona-Regeln also«, sinnierte ihr Kollege. »Sie wissen schon, dass darauf Strafe steht?« Eine rein rhetorische Frage. Natürlich wusste Horst das, sowie jeder andere Bürger auch.
»Was haben sie um diese Uhrzeit eigentlich hier verloren?«, fragte der Beamte weiter.
»Ich war Einkaufen.« Horst schwitzte.


»Okay«, die Rothaarige zog den Vokal in die Länge. »Das checke ich gegen.« Sie zog ein Tablett hervor, verband sich mit Horsts Corona-App auf dessen Smartphone und lud die gespeicherten Bewegungsdaten herunter. »Also - sie waren im Supermarkt. Sie haben mit jemandem gesprochen?« Sie zog die Augenbrauen hoch.
Er verneinte. Wieder eine rhetorische Frage. Das Sprechen war in geschlossenen Räumen grundsätzlich verboten. Er erinnerte sich an den Slogan, der fast rund um die Uhr im Fernsehen lief - wer nicht spricht, der exponiert auch nicht. Hätte er dieses Verbot zu brechen versucht, hätten die überall verbauten Richtmikrophone umgehend Alarm geschlagen.


»Tja,« der Polizist blickte seiner Kollegin über die Schulter. »Eigentlich müssten wir den Vorfall melden. Bei dieser Art Fehlverhalten droht ihnen Umerziehungslager. Sind sie sich darüber im Klaren?«
Horst erschrak. Alles, nur das nicht! In diesen Lagern wurden mit den Insassen Coronatests durchgeführt. Das heißt, an ihnen wurden neue Impfstoffe gegen den Virus getestet. Auf freiwilliger Basis natürlich. Das Einverständnis verweigerte niemand, würde das doch heißen, nicht mit den offiziellen Corona-Regeln einverstanden zu sein. Und darauf gibt es langjährige Haftstrafen. Sein Nachbar war vor zwei Jahren in eines dieser Lager gebracht worden. Nachdem man ihn zurück zu seiner Familie schickte, war er nicht mehr der Alte.
»Was machen wir jetzt mit ihnen? Haben sie denn Bargeld bei sich?« Die Frage des Beamten kam leise.
Horst bejahte und zückte seine Brieftasche.


»Das kostet sie mindestens 600 Coronen«, forderte der Beamte und stierte auf Horsts Geldbörse.
Horst reichte dem Polizisten die Scheine.
Der Polizist zählte schnell das Geld und gab seiner Kollegin die Hälfte davon ab. Beide ließen die Noten prompt in ihre Hosentaschen verschwinden.
»Da haben sie ja nochmal Glück gehabt«. Der Beamte drohte mit erhobenem Zeigefinger.
»Bitte beachten sie in Zukunft die Regeln. Sie sind für alle gültig und sichern uns in diesen schwierigen Zeiten unser aller Gesundheit«, belehrte ihn die Rothaarige, bevor die beiden Beamten weitergingen.


Die Nacht, in der die Hubschrauber kamen.

 

Nein - ich hatte nicht geträumt. Ich schob die Gardinen zur Seite und blickte in die Nacht. Dort oben am Nachthimmel spielte sich Unglaubliches ab. Tanzende Lichter, - nein - schwebende Lichter. Überall am Himmel. Die aufkommende Morgendämmerung offenbarte mir, von woher die Lichter stammten. Es handelte sich um Positionslichter von Hubschraubern.

 

So viele auf einmal hatte ich noch nie gesehen. Zu Dutzenden zogen sie über das Firmament. Schwere Helikopter, doppelrotorige Transporthubschrauber vom Typ Ch-47 Chinook schraubten sich über die Dächer der Häuser. Soweit kannte ich mich mit aus. Letztes Jahr haben meine Eltern mich und meine Geschwister zu einem Flugtag mitgenommen. Dort hatte ich den Ch-47 bewundern können, erlebte mit, wie die Armee mit der schweren Maschine Kunststücke über den Köpfen der Zuschauer vollführte. Nun sah ich sie hier, in Zweier- und Dreiergruppen über die Stadt fliegen.

 

Vielleicht wäre Gleiten das bessere Wort. Denn ich hörte sie kaum. Es war erstaunlich. Obwohl die wuchtigen Rotorblätter durch die Luft schlugen, verursachten sie kaum Lärm. Es musste sich um eine neuartige Technik handeln.

 

Unter ihren eisernen Bäuchen trugen sie schwere Lasten. Es waren sperrige Stahlkonstruktionen, die an Trossen und Seilen unterhalb ihrer Rümpfe hingen. Diese massigen Maschinen mit ihrer schwebenden Fracht in Pulks durch die Nacht ziehen zu sehen, zeichnete ein bizarres Bild am Himmel. Als ob stählerne Inseln über das Land zögen.

 

Doch es gab noch weitere Helikopter, die die Nacht durchquerten. Sie waren mir in dem Gewirr der vielen Lichter zuerst nicht aufgefallen. Kleiner und leichter als die Transportmaschinen, drehten sie ihre Kreise zwischen den Häuserzeilen. Obwohl sie viel tiefer flogen, waren sie doch genauso leise. Es war, als würden diese Maschinen am Boden etwas suchen.

 

Dann verstand ich! Sie sondierten die Gegend! Hielten Ausschau nach Personen, die das Spektakel am Himmel bemerkt hatten. Eine innere Stimme warnte mich. Ich trat einen Schritt in den Raum zurück und presste mich gegen die Wand hinter meinem Rücken. Keine Sekunde zu früh, denn ein heller Schein wanderte plötzlich durch mein Schlafzimmer. Einer der Sucherhubschrauber erschien unterhalb der Dachkante und spähte in unser Haus. Ich hatte Glück, er sah mich nicht und drehte ab.

 

Ein Mann, der sich unten auf der Straße befand, hatte weniger Glück. Geduckt zwischen den Bäumen einer Allee starrte er die ganze Zeit schon nach oben. Der Lichtstrahl eines Suchscheinwerfers traf ihn unvermittelt. Kaum einen Atemzug später war er von Uniformierten umringt, die ihn sogleich mitnahmen.

 

Ein kalter Schauer jagte mir über den Rücken. Ich zog es vor, mich sofort in mein Bett zu legen. Zu meinem Erstaunen musste ich umgehend eingeschlafen sein, wie ich am nächsten Morgen feststellte.

 

Mit einem unguten Gefühl im Nacken schob ich die Gardinen beiseite. Das rötliche Licht des Morgens schien friedlich in mein Zimmer. So, als ob das Schauspiel der letzten Nacht nur in meiner Fantasie stattgefunden hatte. Und doch wusste ich nur zu genau, dass dies nicht der Fall war, dass sich die Welt seit letzter Nacht verändert hatte.

 

Am Frühstückstisch war es wie immer. Vater las gelangweilt in der Zeitung. Mutter kümmerte sich um das Frühstück und maßregelte meinen Bruder Markus, der seinerseits unsere Schwester Nina ärgerte. Wie jeden Morgen fuhr ich nach dem Frühstück mit dem Rad zur Schule. Ich blickte um mich, der Tag versprach schön zu werden. Sven, mein Klassenkamerad, wartete schon an der Häuserecke auf mich und stieß sein Rad an, als er mich kommen sah.

 

In dem Moment, in dem wir mit den Rädern das Wohngebiet verließen, sah ich zum ersten Mal einer dieser Stahlkonstruktionen. Am Wochenende hatte der Mast dort auf dem Hügel noch nicht gestanden. Eines war an dem Stahlturm wirklich ungewöhnlich - oben auf dem Top thronte eine große schwarze Kugel. Sie ragte weit über die Hausdächer hinaus. Ich sprach Sven darauf an. Der zuckte nur mit den Schultern und murmelte, dass dies wohl eine neue Einrichtung der Post sei. Sofort kam mir die letzte Nacht wieder in Erinnerung. Hatten die Hubschrauber nicht genau solche Konstruktionen an ihren Lasthaken transportiert?

 

Die Kugel dort auf dem Mast machte mir Angst. Sie kam mir vor wie ein großes schwarzes Auge. Ein Auge, das zu allen Seiten in die Umgebung spähte. Gerade als wir mit unseren Rädern an dem Gerüst vorbeifuhren, hatte ich das Gefühl, als würde uns jemand beobachten. Als läge etwas Verborgenes unterhalb der Oberfläche dieser Kugel.

 

Kaum hatte ich mich von meinem unguten Gefühl erholt, als mich ein weiteres Mal der Schrecken traf. Der Mast auf der Wiese war nicht der einzige, den die Hubschrauber letzte Nacht aufgestellt haben mussten. Ein zweiter Mast strebte in der Nähe des Einkaufzentrums in den Himmel. Ein Dritter kaum einhundert Meter von der Schule entfernt. Auch diese beiden anderen Türme hatten jeweils eine schwarze Kugel auf ihrer Spitze.

 

In der kommenden Nacht machte ich kein Auge zu. Ich kauerte zwischen Bett und Fenster, hatte die Vorhänge bis auf einen winzigen Spalt zugezogen, und wartete erneut auf die Hubschrauber. Doch sie kamen nicht mehr.

 

Die Tage vergingen. Doch es war sonderbar. Für die so urplötzlich aufgetauchten Masten schien sich niemand zu interessieren. Da war keiner, der nachfragte, woher sie kamen oder welchen Zweck sie wohl erfüllen sollten. Hier und da nur eine lakonische Bemerkung, was die Post da wieder treibe. Diese Gleichgültigkeit flößte mir zuerst Angst ein. Nach ein bis zwei Wochen hatte auch ich mich an die Stahlkonstruktionen mit ihren schwarzen Kugeln gewöhnt.

 

Da war nur eine Sache.

 

Und es war mehr als nur ein Gefühl.

 

Zuerst glaubte ich, ich würde es mir nur einbilden.

 

Doch nach einiger Zeit war ich mir sicher.

 

Absolut sicher.

 

Die schwarzen Kugeln konnten meine Gedanken lesen. Dachte ich kritisch über mein Leben nach, dachte an etwas Bedrückendes, an etwas Desolates, dann passierte es, dass ich plötzlich angerufen wurde. Von einem Freund oder von jemandem, der gerade eine Umfrage machte oder sonst von wem. Immer wieder wurde ich aus meinem Grübeln gerissen. In letzter Zeit passierte es sogar, dass jemand aus meiner Familie zur Tür hereinpolterte, wenn ich gerade über den einen oder anderen Missstand nachdachte. Das ließ sich sogar tatsächlich überprüfen. Sobald mein Kopf frei war, ich zum Beispiel nicht an diese Kugelempfänger dachte, geschah nichts. Sobald ich aber mein Innerstes jedoch auf einen dieser Masten lenkte - just klingelte das Telefon.

 

Doch sie konnten nicht nur meine Gedanken lesen. Auch die Menschen um mich herum hatten sich verändert. Es gab keine bösen Worte mehr. Niemand fluchte mehr, niemand sprach kritisch über dies oder das. Keiner äußerte mehr unbequeme Fragen. Man plauderte nur noch, quatschte über die Ferien oder über den herrlichen Tag.

 

... was ist das doch für eine wunderbare Welt, in der ich lebe!


Fiktives Interview mit Werner von Braun

 

»Habe ich das Richtige getan?«

 

»Herr von Braun, der 16. Juli 1969, der Tag, an dem die Saturn-5 erfolgreich von Cape Canaveral startete und die drei Astronauten Edwin Aldrin, Neil Armstrong und Michael Collins sicher zum Mond brachte. Was für eine Bedeutung hat dieser Tag bis heute für Sie?«

Von Braun lächelt, faltet seine Hände und beugt sich über den Tisch. »Das war der glücklichste Tag meines Lebens. Wissen Sie, mein ganzes Leben lang habe ich darauf hingearbeitet. Alles, was ich wollte, war, eine Rakete zu bauen, die Menschen zum Mond bringt.«

»Die Quintessenz ihres Lebens sozusagen?«

 

»Oh ja, sicher. Der Mond. Ich habe von Anfang an nur dieses eine großartige Ziel gehabt. Den Mond. Ich wollte zum Mond, ich musste es schaffen! Das war meine Lebensaufgabe!«

»Wann wurde ihnen das zum ersten Mal bewusst?«

 

Von Brauns Lächeln wird breiter. »Das war mir schon immer bewusst gewesen. Ich musste eine Rakete bauen. Ich erinnere mich noch gut an meine ersten Experimente im Berliner Tiergarten. Damals war ich noch ein kleiner Junge. Wissen Sie, meine Mutter hat mir zu Weihnachten mein erstes Fernrohr geschenkt. Wenn ich den Mond dadurch betrachtete, war es so, als wäre ich schon dort.«

»Herr von Braun, Sie traten 1929 dem Verein der Raumschifffahrt in Berlin bei. Könnte man das als den Anfang ihrer Karriere bezeichnen?«

Von Braun winkt ab. »Das waren doch nur Jugendträume, nichts weiter. Sicher, wir haben da die ersten einfachen Raketenmotoren gebaut. Aber das war noch weit entfernt von echter professioneller Arbeit.«

»Immerhin haben Sie durch diesen Verein die ersten wichtigen Kontakte geknüpft. 1932 hatte der Verein Besuch von der Reichswehr. Deutschland durfte seit dem Versailler Vertrag keine schwere Artillerie mehr bauen. Die Idee einer Rakete als Ersatz- waffe kam der Wehrmacht wie gerufen.«

Das Lächeln aus von Brauns Gesicht verschwindet. »Worauf wollen Sie hinaus?«

»Darauf, dass Sie für ihren Traum bereit waren, jedes nur erdenkliche Opfer zu bringen. Waren nicht Sie es selbst gewesen, der sich schon als Jugendlicher dem Heereswaffenamt anbot? Es musste ihnen doch klar gewesen sein, das Sie von nun ab Waffen bauten?«

Von Braun wendet sich ab. »Ach, hören Sie doch auf! Wir von Brauns haben immer schon dem Militär gedient. Das war zur damaligen Zeit überhaupt nichts Verwerfliches. Wenn ich ernsthaft Raketen bauen wollte - die technischen Möglichkeiten und die finanzielle Unterstützung fand ich nur beim Militär!«

»Und an Ihrer Haltung änderte sich auch nichts, als 1933 Hitler an die Macht kam und sich persönlich für ihr Raketenprojekt interessierte?«

Von Braun klopft auf den Tisch. »Wen interessierte damals der neue Machthaber? Niemand kam zu der Zeit auf die Idee, dass die Nazis Deutschland in einen neuen Krieg führen würden. Aber ihre Mittel, die sie zur Verfügung stellten, waren außerordentlich! Hören Sie mal, ich war gerade einmal 23 Jahre alt und konnte über eine Summe von über 100 Millionen Reichsmark verfügen! Die Nazis erlaubten mir es, in Peennemünde eine eigene Raketenstadt aus dem Boden zu stampfen! Ist das nicht unvorstellbar?«

»Herr von Braun, sind Sie deswegen 1937 Mitglied der NSDAP geworden?«

»Das habe ich nicht freiwillig getan. Ich wurde von Hitler persönlich dazu aufgefordert. Ich habe mich nie für diese Partei interessiert. Aber es war notwendig, da einzutreten, wenn wir weitermachen wollten.«

»Natürlich - weitermachen. Aber im Gegenzug dazu forderten die Nazis etwas von Ihnen. Eine Waffe. Waren es nicht sogar Sie selbst, der die erste fertiggestellte Rakete, die V2, die zu der Zeit noch A4 hieß, den Nazis als einsatzfähige Waffe angepriesen hatte? Damals in Adolf Hitlers Wolfsschanze?«

Von Braun antwortet darauf nicht sofort. Er zückt eine Schachtel Zigaretten, entnimmt eine und zündet sie sich an. »Ja. Das war ein Problem. Wir hatten mit unserer Wunderwaffe hoch gepokert. Hitler ist uns auf den Leim gegangen. Plötzlich sah er darin die Möglichkeit, das Ende abzuwenden, den Krieg doch noch zu gewinnen. 1800 Raketenabschüsse forderte er von uns. Pro Monat! Die Anlage wurde vergrößert. Das machte auch die Alliierten auf uns aufmerksam.«

Der Luftangriff auf Peenemünde, Herr von Braun. War es nicht so, dass bei diesem Angriff über 700 Menschen ums Leben kamen? Hauptsächlich Zwangsarbeiter?«

Von Braun erhebt sich von seinem Platz, dreht sich zum Fenster. »Die britische Luftwaffe hatte uns eines Nachts angegriffen. Der Tod der Fremdarbeiter geht auf deren Konto! Dafür kann man mich nicht verantwortlich machen!«

»Wirklich nicht? Genauso wenig wie die vielen Zwangsarbeiter, die sich für die Massenproduktion der V2 im Harz im Stollen DORA zu Tode schufteten?«

»Hören Sie auf mit solchen Märchen! Ich habe in meinen Anlagen nie einen Toten gesehen! Alles was wir damals taten, war notwendig gewesen! Es war notwendig, um zu überleben, hören Sie!? Es ging um Sieg oder Niederlage!«

Von Braun zieht an seiner Zigarette, bläst den Rauch in die Luft. »Ich wollte das nicht. Die vielen V2‘s, die London trafen. Das habe ich wirklich nie gewollt. Alles, was ich wollte, war eine Rakete zum Mond zu bauen. Verdammt noch mal, ich bin Wissenschaftler und kein Nazi!«

»Okay - reden wir nicht mehr über das Dritte Reich. Reden wir über die Zeit danach.«

Von Braun setzt sich zurück auf seinen Platz, »Der Krieg war noch nicht zu Ende, da war uns schon klar, dass Hitlers Fall nur eine Frage der Zeit war. Doch wer auch der Sieger sein sollte, ich und meine Ingenieure hatten schließlich etwas zu bieten. Jeder der Siegermächte würde unser Wissen und unsere Technologie unter den Nagel reißen wollen. Und für uns gab es keinen Zweifel, dass nur die Amis in der Lage waren, unser Projekt weiterzuführen. Also versteckten wir alle unsere Dokumente in dem Bergwerk in Nordhausen. Diese Dokumente waren unsere Lebensversicherung. Ohne sie würden wir in den USA nicht arbeiten können.«

Von Braun zieht erneut an seiner Zigarette. »Der Krieg war kaum zu Ende, da siedelten ich, 115 meiner Wissenschaftler und 341 Güterwagen voller Technologie und Dokumente in die USA über. Und schon ein Jahr später stiegen von White Sands, von amerikanischem Boden aus, wieder V2’s in den Himmel.«

Von Braun lacht. »Unglaublich, nicht wahr? Aber wir traten auf der Stelle. Es ging nicht wirklich voran. Die Amis legten uns auf Eis. Da kam mir die Idee, ob es nicht möglich wäre, die Rakete mehrstufig auszulegen. Die Reichweite erhöhen und sie Atomwaffen tragen lassen. Das kam an! Mit dieser Idee konnte ich bei den Amerikanern wieder punkten! Wir zogen nach Hundsville um und es gab wieder neues Geld.«

»Und Sie und ihre Leute bauten bald darauf die Redstone, die erste Atomrakete.«

»Was mir umgehend die Staatsbürgerschaft der Vereinigten Staaten einbrachte. Sehen Sie, die USA sind ein ganz wundervolles Land. Die Menschen dort sind so offen für neue Ideen. Ich habe ihnen von der Besiedlung des Weltraums vorgeschwärmt, von den unendlichen Möglichkeiten der Technik.«

»Sie hatten dabei einen guten Mitstreiter. War es nicht Wald Disney, der sie dabei unterstützte?«

Von Braun nickt. »Doch bis zur zivilen Nutzung war es noch ein weiter Weg. Ende der 50er hatten wir eine Mittelstreckenrakete, die Jupiter C, fertiggestellt. Die Tests waren erfolgreich. Wir hätten sogar einen Satelliten damit ins All bringen können. Doch das Government gab der US-Navi mit ihrer Vanguard-Rakete den Vorrang.«

»Wohl sehr zu ihrem Leidwesen, Herr von Braun?«

 

»Oh ja, leider. Aber dann kam der Sputnik. Die Sowjets hatten nicht geschlafen. Sie hatten uns übertrumpft. Nun waren sie die Ersten im All. Die US-Navi musste kontern. Mit ihrer Vanguard. Doch die Triebwerke der Vanguard waren noch nicht ausgereift.Ein Desaster. Sie explodierte noch am Boden.«

Kein Desaster für Sie, Herr von Braun. Nun kamen Sie wieder ins Spiel.

Von Braun drückt den Zigarettenstummel in den Aschenbecher. »Und wieder musste ich hoch pokern. Ich versprach der US-Regierung, mit meiner Jupiter C in nur 90 Tagen einen Satelliten ins All schießen zu können. Mehr Zeit bräuchte ich nicht.«

Er klatscht in die Hände. »Verdammt, und wir haben es geschafft! Nach dem erfolgreichen Satelliten-Start wurde daraufhin die NASA gegründet. Die Geburtsstunde der zivilen Raumfahrt. Endlich war ich am Ziel! Endlich musste ich keine Waffen mehr bauen! Endlich war ich frei!«

Von Braun faltet die Hände: »Oft habe ich mich gefragt, habe ich wirklich das Richtige getan? Hätte ich nicht vieles besser machen können?