Erinnerungssplitter – Teil IX

 

Heute heißt er Hairstylist und gibt seinem Laden einen exklusiven Namen, wie z.B. Long Dream Friseur, Hair Express, Cut & Color Haircompany, Style & More, Hairlounge. Die Liste ließe sich gut fortsetzen, man beachte die guten Englischkenntnisse der heutigen Haarspezialisten.

 

Damals hieß der Friseur Herr Stempfle und hatte seinen Salon am Ende unseres Wohnblocks neben dem Bäcker und dem Metzger. Alle Frauen und vermutlich auch Männer gingen zu Herrn Stempfle, um sich einem notwendigen Haarverbesserungsprogramm zu unterziehen.

 

Der Laden war nicht besonders groß, exklusiv schon gar nicht. Die englische Sprache hatte sich auch noch nicht über die Ladentür verirrt. Die Einrichtung bestand aus mehreren Stühlen vor Spiegeln, dazwischen das Waschbecken. Die obligatorische Trockenhaube hing an einem beweglichen Arm von der Decke herab und rundete das Ensemble formschön und einladend ab.

 

Waschen, schneiden, legen – so lautete die Verschönerungsformel. Vor dem Vergnügen wurde der Kundin der Umhang aus Nylon um Hals und Schultern gelegt. Gerne rosa oder hellblau geblümt  Dann begann die Prozedur. Zunächst einmal das Waschen des Haares. Das war sicher oft nötig. Das Wasser am heimischen Waschbecken scheuten die Damen, denn das Wasser war ja nun einmal kalt. Im Salon gab es warmes Wasser, die Kundin beugte das Haupt nach vorne ins  Becken, dann kam der Warmwasserschwall von hinten über den Kopf. An Make up war beim Friseurbesuch nicht zu denken, denn beim Waschgang wurde das Gesicht wohl oder übel mitgewaschen.
Nun konnte der moderne Haarschnitt in Angriff genommen werden. Die Frisuren waren in ihrer Art irgendwie recht steif, kurz und gestuft über den Ohren oder etwas länger und mit Ponyfransen. Damit die Pracht einige Tage anhielt, kamen nun in der Abteilung „Legen“ die Lockenwickler zum Einsatz. Die Haare wurden ordentlich auf Wickler aufgedreht und mit einem Gummiband an dem Röhrchen befestigt. Ein dünnes Tuch verdeckte anschließend die feuchte Wicklerherrlichkeit, und die Kundin konnte nun unter der Trockenhaube Platz nehmen. Hier gab es dann mehrere Möglichkeiten, sich sinnvoll zu beschäftigen, bis die Haare trocken waren. Die Illustrierte für die moderne Frau informierte über Klatsch und Tratsch aus der Welt der damals schon Schönen und Reichen. Solche Illustrierten gab es eben vor allem beim Friseur, waren eigentlich zu teuer für den heimischen Küchentisch. Herr Stempfle steuerte sehr gerne die neuesten Geschichten aus der allernächsten Umgebung bei. Von Trockenhaube zu Trockenhaube wurden interessante Beobachtungen über die lieben Nachbarn weitergeflüstert. So war man nach dem Friseurbesuch nicht nur äußerlich gut aufgestellt, sondern auch um diverse Informationen reicher.
Die Wickler hatten unterdessen  schöne runde Löckchen produziert. Sie wurden nun ordentlich ausgebürstet und mit einem Kamm steil nach oben toupiert und aufgebauscht. Noch eine ordentliche Ladung „Allwettertaft“, sprich Haarspray und fertig war die Turmfrisur. Um die Pracht über mehrere Tage zu erhalten, wurden in der Nacht gerne auch Lockenwickler eingedreht, und Frau schlief dann auf den stacheligen Dingern, um mit steifem Nacken und Ringen unter den Augen am Morgen vor den Spiegel zu treten und die mehr oder weniger gut erhaltene Frisur zu richten. Noch etwas verlängern ließ sich die Pracht mit dem Einsatz von Trockenschampong (heute: Shampoo). Man puderte die fettigen Stellen mit dem Trockenzeug ein und bürstete alles nach kurzer Wartezeit gründlich wieder aus. Das Ergebnis war zwar weniger fettig, dafür aber recht grau und staubig.

 

In mein Kinderleben trat der Friseur, als meine Mutter beschloss, dass meine Zöpfe endlich abgeschnitten gehörten. Es war in etwa mit dem Eintritt in die Realschule, auf den Fotos aus der Zeit hatte ich einen braven Pagenschnitt mit Seitenscheitel und ab und zu ein Klämmerchen im Haar, damit die „wilde“ Mähne nicht allzu unordentlich ins Gesicht fiel. Ich erinnere mich, dass ich nicht gefragt wurde, ob ich meine Zöpfe gerne loswerden wollte. Schnipp schnapp, ab waren sie und fielen zu Boden. Aber eingewickelt in ein Stück Papier durfte ich sie immerhin mitnehmen zur Erinnerung – an was? Meine Kindheit? Ich warf sie jedenfalls nicht sofort weg, wegen der Erinnerung. Sie lagen lange in irgendeiner Schublade, blonde feine Zöpfe. Einige Jahre später kamen Haarteile zum Einsatz auf Frauenköpfen, vor allem junge Frauen wollten mit üppigen Haarschöpfen mehr scheinen als sein. Das wurde die Stunde meiner alten Zöpfe. Mit Hilfe einer dünnen Häkelnadel mühte ich mich damit ab, aus meinen Zöpfen ein Haarteil zu fabrizieren. Grundlage war ein Stückchen Stramin, das im Handarbeitsunterricht für Stickereien benutzt wurde. Die ganze Sache war zwar genial erdacht, stellte sich aber doch als äußerst mühsame Angelegenheit heraus und brachte nicht den gewünschten Erfolg. Bis auf meinen Kopf gelangte das Haarteil jedenfalls nie, und ihren Erinnerungswert hatten die Zöpfe dann auch verloren.

 

Heute herrschen andere Moden, dennoch bleibt der Einsatz des Haarspezialisten  am Kopf wichtig.  Allerdings  kann  er - oder sie, um zum Schluss doch noch korrekt zu werden  -   nicht mehr im Verein mit Mutter über die Frisur eines Kindes bestimmen. Schon Sechsjährige geben dem Friseur zu verstehen, welche Fußballerfrisur oder Modelmähne sie wünschen. Das weiß ich von meinem Lövenicher Friseur, der sich auch oft genug wundert über den exklusiven Geschmack der jungen Kunden.


 

Erinnerungssplitter – Teil VI

 

Ich sitze am Abend in meinem Garten, der nur klein ist, eben die bekannte Handtuchgröße in der Großstadt. Na gut, vielleicht etwas größer schon. In diesem Jahr ist alles ganz besonders grün, dicht zugewachsen, Rosen und Lavendel blühen, auch die ein oder andere Akelei und Verbenen, Kräuter gedeihen in Töpfen.

 

Neben mir auf dem Zaun landet eine Amsel, die Spatzenfamilie stürzt wie immer im Familienverband aus der Buchenhecke und macht Flugübungen durch die angrenzenden Gärten. Meisen und Rotkehlchen bewegen sich durch die Pergolastreben und füttern ihre Jungen mit Erdnüssen aus der Futterstation. Offenbar sehr lecker, da kann man nie genug von haben.

 

Ein kleines Stück Natur mitten im Großstadtgetöse, das ist es, was ich an meinem Garten so sehr liebe. Ich frage mich inmitten dieser kleinen Idylle, wie so ein Stadtmensch, der ich ja eigentlich bin, den Zugang zur Natur finden konnte. Aufgewachsen in Köln waren für mich auch damals schon ein Wald, eine Heidelandschaft, Wiesen und Felder doch eher ferne Ziele. Ausflüge in die nähere und fernere Umgebung fanden nicht statt. Die gelegentlichen Reisen zu den Verwandten führten zwar in die Ställe, aber sonst allenfalls zum Kartoffelacker.

 

Aber zu unserem Kinderglück gab es rund um den modernen Wohnblock an der Dürener Straße noch verlassene Schrebergärten, unbebaute Flecken, die den Kriegswirren zu verdanken waren. Obwohl es streng verboten war, vermutlich wegen unentdeckter Munition, eroberten wir Kinder die verwilderten Gärten und trieben uns dort herum, dachten uns Spiele aus, alles war möglich. Schnecken fanden eine neue Heimat auf dem Balkon in einer Kiste, versorgt mit leckeren Blättern. Wir fanden, hier hatten sie es wirklich gut und mussten sich nicht mehr selbst um alles kümmern. Unsere Mütter waren leider grundsätzlich anderer Meinung. Und so wechselten zahllose Schnecken, aber auch Kaulquappen und Frösche oftmals zwangsweise ihre Wohnquartiere oder waren unversehens ausgezogen, wenn wir mittags aus der Schule kamen.

 

Mit abgerissenen flachen Grashalmen, die man zwischen die Daumen spannte, konnte man wunderbare laute Pfeifgeräusche erzeugen. Auf langen Grashalmen ließ sich elegant herumkauen. Die Käfer mühten sich über Stöcken und Steinen ab auf ihrem Weg nach irgendwohin. Man konnte sie stundenlang dabei beobachten, wenn man auf dem Bauch lag und den Erdboden genauer in Augenschein nahm.

 

Im Sommer lagen wir auf dem Rücken zwischen wilden Blumen und Gräsern, die so hoch wuchsen, dass man uns nicht mehr sehen konnte. Es summte und brummte unablässig um uns herum. Es regnete natürlich nie – in meiner Erinnerung. Wir blickten hinauf in den Himmel, an dem die Schwalben flogen und hingen unseren bescheidenen Kinderträumen nach. Ach, ein Roller wäre schön oder ein kleiner Hund, wenigstens ein Wellensittich, dem man das Sprechen beibringen könnte.

 

Wenn keine Freundin draußen war, dachte ich mir Geschichten aus. Ich war wechselnd Pferd (Fury) oder mutiger Cowboy, auch mal Indianer, und galoppierte durchs Unterholz. Wieherte ich etwa auch? Kann schon sein. In meinen Kopfgeschichten tobte der Kampf zwischen Gut und Böse. Manchmal fand eine aufreibende Flucht durch dunkle Wälder statt, bis Rettung nahte in Gestalt eines edlen Indianers. Hatte ich da schon Wildwestfilme gesehen? Oder doch eher Karl May gelesen. Als Winnetou im dritten Band starb, rührte ich gleichzeitig mittags im Reis herum, in der linken Hand das Buch, rechts der Kochlöffel. Meine Tränen flossen reichlich in den Topf.

 

Bei meinen Galoppritten entdeckte ich eines Tages einen Knochen, der aus einem kleinen Erdhügel herausragte. Eine große Entdeckung, vielleicht der Knochen eines Neandertalers oder eines anderen urzeitlichen Wesens. Mit einer Kinderschaufel buddelte ich den Knochen jedenfalls aus und trug ihn am nächsten Tag erwartungsvoll in die Schule, um ihn der Lehrerin zu zeigen. Sie würde etwas sagen wie: ‚Oh mein Gott, welch ein Fund, eine Sensation, wo hast du diesen prähistorischen Knochen denn gefunden…?’ Was die Lehrerin tatsächlich sagte war: „Ach Kind, den ollen Knochen hat ein Hund dort vergraben, den kannst du wegschmeißen!“ - Ein so einschneidendes Fundstück, und diese Lehrerin war eindeutig zu doof, um es zu erkennen!

 

Die Suche nach archäologischen Funden gab ich dann auf. Die Liebe zu Feld und Flur allerdings blieb.

 

Im Wald unter Bäumen und Blättern kehrt  Ruhe ein in den von der Hektik der Stadt beanspruchten Kopf. Aufgewühlte Erde wirft Fragen auf. Wildschweine? Oder andere gefährliche Bewohner? Eine weite Landschaft lässt die Gedanken fliegen zu neuen Ideen. Ein Bach schimmert durch Bäume und Unterholz, grünlich undurchsichtig oder klar mit Sicht bis auf den Grund, ganz besondere Farben entstehen im dahinfließenden Wasser.

 

Heidelandschaft mit weiten violetten Buschebenen, Grasbuckel wie irre Frisuren, gluckernde Wasser mit torfigen Rändern, in denen man vielleicht versinken kann. Immer wieder sprechen Gedenksteine und Kreuze von tragischen Schicksalen. Es verwundert und rührt mich, dass heute noch an diese Menschen gedacht wird. Manches ist so lange her, und doch bleibt eine Verbindung bestehen zwischen damals und heute.

 

So bewege ich mich mit Liebe durch die Natur, die mir immer wieder neue Ansichten schenkt, sie ist nie zu Ende gesehen und zeigt sich immer wieder ganz anders.

Das kleine Rotkehlchen in meinem Garten hat nun den aufgerollten Wasserschlauch zu seinem abendlichen Spielplatz erkoren. Langsam verschwindet für heute die Sonne, nur im Ahorn glänzt sie noch für wenige Minuten orangegolden.